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The Cologne Experiment

10.07.2021 • Ulrich Hermanns Online

Ulrich Hermanns

Samstag, 10. Juli 2021, 18:00 Online

Liebe Orphys-Community,

Ende Oktober 2020 war erst einmal Schluss mit persönlichen Treffen im Rahmen der Erdrotationen. Das SARS-CoV-2 Regime hatte uns alle im Griff. Unsere traditionelle Location hat ihre Tore bis heute nicht geöffnet. Daher eine kurze Erläuterung zum Geschehen seitdem.

Anlässlich einer politischen Entscheidung in den USA vom 6. Januar 2021 wurde mir schlagartig klar, wie sehr unsere westliche Welt seit Beginn der Siebzigerjahre – des vergangenen Jahrhunderts, muss man mittlerweile hinzusetzen – einen Drive verloren hat, an den trotz allem der Anschluss nicht vollends verloren gegangen ist.

An diesem Mittwoch wurden im US-Staat Georgia zwei demokratische Bewerber wider Erwarten in das United States House of Representatives gewählt. Dies verhinderte eine ansonsten unausweichliche Blockade der Politik des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten durch seine Gegner. Als die zuvor kaum realistische Entscheidung mittags bei uns bekannt wurde, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ein unerträglich reaktionärer Zug im Weltgeist war gestoppt. Grund dafür waren die wenigen Tausend Wählerinnen und Wähler in Georgia, die den demokratischen Kandidaten ins Amt verholfen hatten.

Historiker werden so etwas vor Langzeitbeobachtungen bewerten, das jeweilige Jetzt als ebenso dereinst der Geschichte angehörig relativieren. Mir gelingt das nicht. Ich sah vielmehr den Weg, den meine eigene Auffassungsgabe zurückgelegt hat. Auf diesem waren seit fast fünf Jahrzehnten Kreativität, Phantasie, Engagement und Selbstbestimmung immer weiter geschwächt erschienen. Zwei guten Freunden teilte ich diese spontane Empfindung per E-Mail mit. So subjektiv sie sein mochte, sie bewirkte eine Reaktion.

Einer der Freunde gab diese Nachricht an einige Leute in seinem Umfeld weiter. Aus diesem Kreis gab es ein weiteres Feed-Back. Da es für mein Verständnis an dem subjektiven Kern der Empfindung etwas vorbei ging, hängte ich etwas zur Verdeutlichung an. Darin sollte vor allem die Bedeutung der Perspektive außerhalb der westlichen Hemisphäre zum Ausdruck kommen.

Wie gesagt, wir sind keine Historiker, sondern eigenständig mit unserem jeweiligen Denkvermögen unterwegs, dabei keiner universitären Ordnung der Diskurse verpflichtet.

Das Cologne Experiment

Unabhängige Erfahrungen bedürfen trotzdem eines Mediums, um sich ihrer Perzeptivität zu versichern. Für mich ist dieses vor allem der Dialog, mit zunehmender geografischer Entfernung der sich Austauschenden vor allem in schriftlicher Form.

Ein in die beschriebene, sich austauschende Community involvierter Akteur schlug vor, eine Plattform auf E-Mailbasis ins Leben zu rufen. Dort sollte solcher Austausch in größerer Runde vonstattengehen. Er mixte dazu aus verschiedenen Quellen etwa fünfunddreißig Adressaten. Die meisten in Deutschland und Deutsch sprechend, aber auch Leute aus den USA, Australien, Spanien, Frankreich und Kenya, teilweise mit wenig Deutschkenntnissen.

Der Mann mit dem Einfall, einen munteren Austausch zu noch unspezifisch bleibendem Kontext zu inszenieren, ist in Köln beheimatet. Daher der Name. Intern hieß die Aktion meist nur: offene Plattform oder Forum.

Es wäre ein schöner Erfolg gewesen, wenn sich auf der Basis individueller E-Mail-Botschaften kollektive Positionen über Statements oder Artefakte ergeben hätten. ‚Artefakte‘ meint etwa Bilder oder Dokumentationen von Kunstaktionen, die es vereinzelt gegeben hat, auch freie Texte ohne unmittelbar diskursiven Bezug.

Unausgesprochene Idee dahinter war, dass die von den Meisten noch erinnerbare Intensität einer ebenso gesellschaftlichen wie individuellen Bewegung seit den Sechzigern bis in die Siebziger angezapft und wiederbelebt würde. Es war ja klar, dass ‚weltgeschichtlich‘ der sich zuvor anbahnenden reaktionären Krux erst einmal die Spitze genommen war. Inzwischen sehen wir ja auch, dass dies keine Einbahnstraße in den Abgrund hat sein müssen. Entwicklung offen.

An die Kollektivität eines in jungen Jahren individuell erlebbaren Engagements konnte aber gleichwohl nicht angeknüpft werden. Übergreifende Dialoge innerhalb des Forums kamen nicht zustande. Auch keine Kette persönlicher Erfahrungsberichte oder Situationsbewertungen zu Vergangenem oder zukünftig Erwartetem, erst recht nichts von utopischem Format. Es blieb im Wesentlichen bei Statements zu den jeweiligen politischen Idealen, ihren Wurzeln im rationalen Denken und ihrer Rolle in den aktuellen Diskursen. Eine schwer zu verstehende metaphysische Position zwischen Ontologie, Marktwirtschaft und Ethik wurde wegen Rückzugs ihres Protagonisten nicht weiterverfolgt.

Résumé

Ohne viel auszuwerten hat sich doch als Konsens ergeben, dass die Bereitschaft, aktiv Beiträge zu verfassen, eher gering ist. Wobei das Forum fast ausschließlich auf anspruchsvollem, akademisch belastbarem Fundament gründete.

Woran liegt das? Unsere Welt ist voll von Informationsangeboten in unzähligen Formaten und Sprachen. Eine gewisse Rezeptionshaltung ist eine nahliegende Konsequenz. Darüber hinaus scheinen selbst verfasste Beiträge überwiegend an bereits bestehende Foren und Beitragsformen gebunden. Einige Male kam im Forum der Impuls auf, sich doch bestehenden Bewegungen anzuschließen oder in parteipolitisch vorgeprägte Wege einzulenken, wenn es darum ginge, etwas zu erreichen.

Zu konkret Programmatischem kann hier nichts ausgeführt werden, weil sich eben kein Konsens ergeben hat. Erst recht sollten in das Forum keine Orphys-Positionen vorschnell hereingetragen werden. Der fast schon naiven Idee, an den unbekümmerten Geist längst vergangener Zeiten anzuknüpfen, ist jedenfalls keine große Unterstützung zuteil geworden. Vielleicht – zum Glück – auch deswegen, weil die Adressaten ihre jeweils individuellen Entfaltungsorte doch bereits irgendwo gefunden haben. Ansonsten wäre das Sprechen im eigenen Namen, unabhängig von individuellen Über-Ich-Konstellationen oder verfolgten Traditionen, das vorrangige Ziel gewesen.

Das Experiment mit aus drei Quellen zusammengeführten Adressaten ist seit kurzem beendet.

Die kurze Berichterstattung daher zur Erklärung der Ruhe im Orphys-Umfeld während der vergangenen Monate.

Das Experiment war ein Versuch, größere Kollektivität zu erschließen, nicht zuletzt in Nachfolge des Il Decamerone des Giovanni Boccaccio, seinerzeit der zumindest in der Literatur geglückte Weg, mittels Erzählungen den pandemiebedingten Restriktionen ausflugartig zu entkommen.

--

Die initialen E-Mails

MASSENPSYCHOLOGIE AUF MESSERS SCHNEIDE

7. Januar 2021 E-Mail

Lieber H., lieber A.,

an meine beiden Freunde diese Überlegung.

Gestern Mittag hörte ich im DLF vom Sieg des ersten der beiden demokratischen Bewerber um den Sitz von Georgia im Repräsentantenhaus der USA. Der schwarze Pastor Raphael Warnock hatte gewonnen. Für mich unerwartet, hatte es nicht für möglich gehalten, dass die bei der Präsidentschaft mobilisierte Kraft der Demokraten noch einmal so zünden würde. Die Webseiten der NYT und von CNN zeigten die exakten Wählerstimmen, es stimmte. In diesem Moment stellte sich bei mir ein emotionaler Push ein. Schwer zu beschreiben, was es genau war. Eine Erinnerung daran, dass es möglich wäre und auch schon einmal war, dass Politik ohne Unterdrückung arbeitet, ohne Diskriminierung. Zugleich wurde mir bewusst, welch riesige Last vier Jahre auf der Welt gelegen hatte, weil ein dunkles Machtgeflecht die Hoffnungen auf Realisierung dringend notwendiger Anpassungen internationaler wie nationaler Missstände zum Erliegen gebracht hatte. Geradezu drohte, es weiter zu treiben bis zum Ersticken.

Wir haben gesehen, wie die Welt sich rückwärts drehte, ob durch eine verlogene Presse- und Politikkampagne in UK, die Europa spalten sollte, ob durch Aufkündigung von Klimaabkommen, einer blockierten Annäherung an die Mullahs im Iran, einem indirekten Freibrief zum Abbrennen der Regenwälder und, und, und. Tausend Puzzleteile, die unerträglich auf eine Welt verwiesen, in der man nicht leben möchte. Druck, Egoismus, Ignoranz den Institutionen gegenüber wie vor allem den Menschen, die auf deren Hilfe angewiesen sind.

Ihr habt es vielleicht auch so wahrgenommen, dass, je mehr man in die Verflechtungen der Weltentwicklung Einblick hat, umso mehr wird erkennbar, dass eine vielleicht damals naive Vorstellung von Love & Peace einfach nicht greifen will. Für mich schien sie aber vor langer Zeit geradezu naturgeschichtliche Konsequenz. Und da sind wir beim Rückblick, der eine immense Wirkung zeigt. Dass nämlich die Vorstellung der sich selbst erledigenden reaktionären Haltungen, wo immer sie zu finden wären, nicht Wirklichkeit wurde. Eine große Wirtschaftskrise, weltweit, gestattete, ab 1974 den Hebel umzulegen. Im Gefolge gigantischer Umorganisationsschübe in der Makroökonomie riefen bald neoliberale Teufel clevere Banker auf, aus dem Versteck zu kommen, nicht Dienstleister des Kapitals zu sein, sondern Anführer. Capital is back. Ohne einen Fetzen sozialer Logik blieben die Beschäftigten der traditionellen Industrien reihenweise auf der Strecke. Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit dominierten in der öffentlichen Wahrnehmung, jegliche vormalige Kritik erstickte. Aus der Traum. Ein Medium wie der Stern liquidierte sich selbst durch Sensationslüsternheit. Nur als Beispiel. Die so positiv aufgeladene, im Entstehen begriffene Interdisziplinarität philosophischer Perspektiven, fundierter Einblicke in die große Ökonomie und in die Heterogenität von Kulturen, ob synchron oder diachron, verlor über Nacht an Boden. Keine entsprechende Tür stand mehr offen. Das bedeutete zugleich eine tiefe Enttäuschung für die genau daran Interessierten, wie schwer auch als solche zu erkennen. Narzisstische Kränkung einmal anders. Mit unabweisbarem, wenn auch damals nur schwach wahrnehmbarem Weltbezug.

In meiner Schnellreflexion lief all das ab. Warum? Weil bis heute kein Spalt zu erkennen ist, durch den ein solches Reich von Gleichheit und Anerkennung betretbar wäre. Ganz im Gegenteil, wir könnten die Phasen der subtilen Reaktion national wie international in getreuer Reihe Revue passieren lassen. Eine große Chance wurde vergeben, als ein Zug von demokratisiertem Luxus in Form von Life Style durch die westliche Welt zog und man selbst die Ressourcen nicht anders und besser nutzte. Mit dieser etwas schüchternen Noblesse ging es weiter. Terror war ab 2001 ein weltbestimmendes Phänomen. Woher er kam und was ihn am Leben hält ist nicht schwer zu ermitteln.

War der Traum von einer besseren Welt danach noch einmal durchscheinend geworden? Für mich in seiner Frische nicht. In einzelnen Aspekte, ja, doch immer die weltweiten Rückschläge. Große Bedrohungen, nicht zuletzt mit Blick auf die westliche Lebensweise mit ihren lebensweltzerstörerischen Auswirkungen als Ganzes. Ist es richtig, die in hunderten von Millionen Jahren entstandenen Bodenschätze als Brennstoff für den Wagen durch den Auspuff zu jagen – so funny Fahren zuvor einmal war, als wir von dem nichts wussten? Die Gasvorkommen in Windeseile zu verheizen, nur damit es schön warm ist, den Erdboden abzutragen um der Braunkohle Herr zu werden, damit die Bildschirme leuchten?

Überhaupt die immaterielle Welt der Medien. Fake News statt Diskurse, bei denen Menschen miteinander agieren, auf Anerkennung optieren können, eine fassbare Wirklichkeit thematisieren. Ein Hic et Nunc politisch in seinen Konsequenzen erfassen. Dies bezöge sich auf Megatrends, die zeigen, wie greifbar und ungreifbar praktische Konsequenzen geblieben sind.

Dass es zurecht unzufriedene Menschen überall auf der Welt gibt, ist völlig klar. Dass diese wider allen Erwartens sich durch mediale Kampagnen zu hirnrissigen Gewalttaten bewegen lassen, hätten wir doch kaum erwartet, oder? Das muss erst einmal so passieren, um es auf dem Radar zu haben. Ein zu Fall gebrachter Eiserner Vorhang bedeutete zuvor auch eine nach Osten erweiterte EU, Gemeinsamkeit trotzt Differenzen. Da ging es sich noch um spürbare Dinge, deren Begehrlichkeit sich über Jahrzehnte aufgebauscht hatte. Ein halbe Generation später rollte ein über soziale Medien verstärkter Hoffnungswind von Tunesien bis Syrien. Zugleich konnten IS-Aktivisten die sozialen Medien und die Menschen unter ihre terroristische Kontrolle bringen. Dialektik der Geschichte hin oder her, um solche Pauschalisierungen geht es sich nicht. Die Einbahnstraße der westlichen Vernunftlogik in der Weltentwicklung ist pure Unterdrückung.

Solches habe ich intensiv bei allem gespürt, was mir in Somis[1] Heimat begegnet ist. Bis knapp unter die Oberfläche ist dort alles mit Gewalt gefüllt. Unterdrückung von Anderen, statt auf die Kraft gemeinsamer Wertschöpfung zu bauen. Kolonialismus und seine Triebkräfte, sein Abwehrpotenzial, sein externalisierendes Gewaltmodell? Solches sind die Punkte, wo sich individuelle Ökonomie mit kollektiver mischt, psychische mit sozialer, und zwar vor dem Hintergrund der davon untrennbaren Welt. Durchtränkte Gewaltherrschaft, die auf Amerika übertragen wurde und von der die USA und die meisten ihrer Bürgerinnen und Bürger nichts wissen wollen. Joe Biden hat eine Indigene als Innenministerin (wenn ich es recht erinnere) auf seiner Besetzungsliste. Da darf dann auch materialistisch wie historisch-dialektisch prozediert werden. Gesehen werden, was für eine Kraft es war, die Europa zweimal aus der Patsche geholfen hat, ohne welches es schon vorher zur Hölle geworden wäre. Da fängt Dialektik der Geschichte der Jetztzeit an.

Genau das ging mir durch den Kopf, als es klar war, dass der Sieg der demokratischen Bewerber in Georgia greifbar war. Wertschöpfung in der Welt dadurch, dass man alle am Spiel teilnehmen lässt. Auch wenn es praktisch nur ein Teil können wird. Aber ein Ende mit dem Ausschluss! Ein Ende mit der Unterdrückung, die nur zur Selbstbestätigung von Privilegierten, und denen, die dazugehören wollen, dient! Ich spürte, wie meine eigene Motivation auflebte. In einer Welt, in der etwas für alle zu erreichen ist, können auch ökonomische Konzepte und Kommunikation zum Guten dienen.

Genau das Gegenteil hatte ich über Jahre verspürt. Wo es sich um die Greifbarkeit von Werten über die ökonomische Schiene geht, redet man wie ein Missionar und wird nichts als belächelt. Es gibt eine Dimension von Wahrheit in Geschichte und Objektivität, doch sind einige Grundbedingungen dafür nötig. Im gestrigen Moment war es vor allem die spürbare Wegnahme einer großen Last, einer lähmenden, menschenfeindlichen Antiproduktion, die mir da dämmerte. Die im Schnelldurchgang weit in die Geschichte reicht, deren Spuren unauslöschlich sind. Deren Konsequenzen weit in die Seelen der Menschen hineinreichen. Was jedoch so selten nur und so isoliert gesehen wird.

Weiß nicht, ob Euch das etwas sagt. Grausam, dass sich ein gewissenloser Demagoge noch einmal abschließend so niederträchtig in Szene setzen muss. Die Freude am frühen Abend, als tatsächlich der zweite demokratische Senator bestätigt wurde, war unverhofft und groß.

Was ich in der Nacht um Elf hörte, trübte das Bild erneut, weil erkennbar ist, dass die Spuren dieses Auftritts, der ja nur eine Folge lang vorbereiteter, auf Bürgerkrieg zielender Strategien war, erneut einen Schatten über die Hoffnung legen wird. Der Mehrheit soll ihr Sieg nicht gegönnt werden, und die dem dienende Form von Massenpsychologie ist genauso wenig therapierbar, wie ihre Protagonisten.

Habe bisher, als ich dies schrieb, kein einziges Bild dazu gesehen. Wollte einfach den gestrigen Eindruck einigermaßen frisch darstellen. Natürlich geht alles viel tiefer, das hier nur als Gedankenstütze für Weiteres.

Auch wenn Ihr beide, H. und A., Euch nicht kennt, es gibt so viel Gemeinsames im Verstehenwollen und dem Weg dahin. Wir haben unabhängig voneinander unablässig daran gearbeitet, das, was uns begegnet, richtig einzuordnen, und es dauert Jahrzehnte, bis manches klar wird. In diesem Sinne ein weiterer Beitrag,

Alles Liebe und Gute,
U.

--

MASSENPSYCHOLOGIE AUF MESSERS SCHNEIDE / ENGAGEMENT UND BEGEHREN

16. Januar 2021 E-Mail

Lieber A.,

danke für Deine Skizze. God’s Own Country hat seine Besonderheiten. Und allen Grund für Extremismus und Verdrängung obendrein. Beides hat mit Wahrheit zu tun, allerdings mit einer sehr konkreten. Nämlich der Inbesitznahme nicht nur eines Territoriums, der Welt der heutigen Vereinigten Staaten, sondern des gesamten Kontinents, die Karibik eingeschlossen.

Im gleichen Handstreich die kolonialistischen Aktivitäten an anderen, geschichtsmächtigen Plätzen der Welt. Erstere haben wirtschaftliche Ziele einiger sich selbst Autorisierender mit militärischer Rückendeckung ihrer Herkunftsstaaten verbunden. Was nicht zuletzt zu der katastrophalen Aufteilung Afrikas etwa führte. Auch ein Werk unter Bismarcks tatkräftiger Mithilfe. Die so genannte Kongo-Konferenz vor seiner Haustür, 1884 und 1885.

 

Schau Dir die Karte an, die hatten noch keine interaktiven Präsentationen.

Die Gegenbewegungen versagten, solange sie sich vergleichbarer Instrumente bedienten. Mit Peau noire, masques blancs eröffnete Frantz Fanon einen Diskurs, der Einblick in das Walten von Begierde vor solchem Hintergrund gibt.

Das war 1952. Fanon stammt aus Martinique. Er kämpfte gleichwohl als junger Kombattant der französischen Befreiungsbewegung ab 1943 in den Vogesen gegen die Deutschen. Dann pendelt er zwischen Martinique und Frankreich, bevor er ab 1951 als Psychiater in Frankreich arbeiten kann. In Peau noire schreibt er gleich zu Beginn: „L’enthousiasme est par excellence l’arme des impuissants.“ Auf diesem Fundament kommt es auch zum Vorwort zu Les damnées de la terre durch Sartre in 1962. Kurz nachdem Frantz an Leukämie mit 36 Jahren stirbt. In Peau noire folgt auf die obige Feststellung: „Derjenigen, die das Eisen ins Feuer legen, um es augenblicks zu schmieden. Wir möchten das Skelett des Menschen zum Glühen bringen und aufbrechen. Vielleicht würden wir zu folgendem Resultat kommen: der Mensch unterhält diese Feuer durch Selbstverbrennung.“

Fanon hat sich gegen die traditionelle Psychoanalyse gewehrt. Seine psychiatrischen Ausführungen am Ende der Damnées sind gerade deshalb so wichtig. Ich möchte sie hier nicht kommentieren, so wichtig das wäre. Wir können diesen Zweig gerne mal besprechen.

Was hier thematisiert wird ist nicht nur der eine Zweig, der jeglicher Vernunftautonomie gegenüber steht. Das Begehren, Libido, le désir. Es ist vielmehr die Verknüpfung mit blanker Unterdrückung, die immer, wenn man hinschaut, diffundiert und sich aufzulösen beginnt. Siehe bei Franz Kafka ebenso wie bei Michel Foucault. Das sind, wenn man will, durchaus (noch) Rationalitätspositionen. Spätestens die Verlagerung der Konsequenzen auf die Ebene der Sprache, des Diskurses, der Diskurse, zeigt, dass das alles nur geht, wenn man eine gegenläufige Kraft mitdenkt, wobei ‚denken‘ in Anführungszeichen zu setzen ist.

Das findet sich ebenso rudimentär wie poetisch im Symposion. Schaue auf die eigenartige Beschreibung der Herkunft des Eros, schaue auf die Blindheit, mit der das begehrliche Treiben der Menschen konnotiert wird.

Es gibt nicht das Eine oder das Andere, es ist ein munteres Hin und Her. Ob gewusst oder gespürt – mit dem Herzen oder zwischen den Lenden –, einer Kraft folgend, die für unsere ‚biologische‘ Existenz, unsere Leiblichkeit ausschlaggebend ist. Die dadurch erst Zeitlichkeit, Gedächtnis ermöglicht.

Die Aufrechterhaltung einer solchen Perspektive kann man Genealogie nennen. Selbstredend sind diese Wurzeln in jeglicher Vernunftlogik ebenso untergegangen wie vergessen oder verdrängt. Genealogie als Versuch, Vergessenes oder Verdrängtes diskursiv einzuholen, unterliegt der sprachlogischen Konsequenz von Kommunikation. Communicatio, etwas ‚gemeinsam machen‘. Genau solches versucht ja die Binnenszene des Symposion.

Um jedoch überhaupt dahin zu kommen, muss die Traumproduktivität zugunsten der Bilder und Metaphern zur Deutung werden, Hermeneutik.

Aus derartigen Zusammenhängen übersetze ich für mich: Philosophie als die Leidenschaft des Denkens. Wobei Leidenschaft ohne ein ‚Anderes‘, eine Art Objekt, nicht existieren kann. Denken ist nicht gleich ‚Erkennen‘, vielmehr Akt.

Wenn Du diese Dimensionen der Vernunft einverleibst, okay. Man kann das so sehen, insofern es sich um einen auf Verständigung orientierten Diskurs geht. Damit bliebe es nichts desto weniger eine eindimensionale Welt. Sicherlich eine der erhofften Fülle, in die alles Erkennbare aufgeht, zumindest zu einem guten Teil. Das Subjekt wird so zum kultivierenden Gärtner oder zur Atombombe, die alle Verrücktheiten absorbiert.

Metaphern, I know. Eine derartige ist zweifellos auch Freiheit. Es kommt nur darauf an, von welcher Seite man sie erfährt. Bei Frantz Fanon ist es die der Unterdrückung. Negativität, die sich nicht in Dialektik ergeht, sondern in Behauptung. Die des eigenen Selbst, genauso wie die der (Sprach-)Gemeinschaft. Was man auch als Arbeit bezeichnen kann. Arbeit des Knechts bei Hegel, Arbeit als Triebkraft des Kapitals bei Marx, Traumarbeit bei Freud. Genussarbeit kommt bei mir dazu, Antrieb des Begehrens.

Begehren dabei bitte nicht als autonome Kraft verstanden, das führt nur zu monozentrischen Quasiautonomien, sondern als durchweg ihrem heterogenen Entfaltungsfeld inhärente. Bekanntlich hat Zenon keine große Lust verspürt, solche Widerspruchslogik haarklein zu zergliedern. Was ein weiser Ethos war. Wer wollte, konnte ihn in seiner Hütte aufsuchen, wo er winters am wärmenden Ofen saß.

Damit will ich keiner höheren Unzugänglichkeit das Wort reden. Ohne eine gewisse Portion Let it be kommen wir aber nicht aus. Wer dem entgegen aufgestellt ist, erobert Amerika und unterwirft die ‚Indianer‘. Verblendung im Weltmaßstab. Genau da sind wir.

Den sanften Wind sinnvollen, gerechtfertigten Engagements unter die Flügel zu bekommen, war meine spontane Eingebung angesichts der Bekanntgabe der finalen Wahlergebnisse in den USA. Die Chance, die Last obsessiver Projektion abzuwerfen. Dann hat es der skrupellose Egomane doch noch geschafft, seinen elenden Code darüber zu stülpen. Entrüstung ist die falsche Konsequenz, sowohl im medialen Diskurs wie im polit-moralischen.

Begehren und Engagement, Göttin und pfeilbewaffneter, geflügelter Eros wandern weiter auf des Messers Schneide. Einige Zeilen aus dem ersten Stück auf Stevie Wonders Songs in the Key of Life:

Good morn or evening friends
Here's your friendly announcer
I have serious news to pass on to every-body

What I'm about to say
Could mean the world's disaster
Could change your joy and laughter
to tears and pain

It's that
Love's … in need … of love today …

Habe ich immer als Kommentar zum Symposion verstanden. Als etwas, dass die angemessene Botschaft der Kommentatorinnen und Kommentatoren damals, 1976, in den Medien gewesen sei. Zumindest dann und wann. Gleich zu Anfang der Sendung. Was danach kommt, ist die Frage.

Eine solche Sendung können wir gern zusammen gestalten.

Alles Gute, lieber A.,
Ulli



[1] Nachträgliche Anmerkung: U's Schatz lebt in Kenya.

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