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Was wir über Natur und Viren wissen – Wenig

14.05.2020 • Henri Berners Online

Henri Berners

                                                   Donnerstag, 14.5.2020 9:00 Online

Liebe Orphys-Community,

physis, erstmals in der Odyssee von Homer belegt, bedeutet Wachstum einer Pflanze. Natur ist die lateinische Entsprechung. Das Wort ist eine Ableitung von nascor mit den Bedeutungen von geboren werden, entstehen, wachsen, beginnen, werden. Bei Natur unterscheidet man zwischen der unbelebten und der belebten Natur. Die unbelebte Natur ist die Spielwiese von Physik und Chemie, um Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, etwas Ordnung im Chaos zu organisieren. Seit der scholastischen Philosophie gibt es auch noch die Begriffe natura naturans, die schaffende Natur, natura naturata, die geschaffene Natur. Ob das besonders hilfreich ist, sei nun dahingestellt.

I.

Die belebte Natur ist somit der Oberbegriff für sämtliche Lebensformen (auf dem Planeten Erde.) Leben, also Stoffwechsel, bedeutet einzig die Fähigkeit, sich ständig zu reproduzieren. Alle Lebensformen sind in der Natur gleichwertig. Es gibt keine Hierarchie. Es gibt Kreisläufe und Nahrungsketten für die Prozesse des Stoffwechsels und der Reproduktion. Die Natur hat keinen Sinn, kein Ziel, keinen Zweck. In der Natur gibt es keinen Fortschritt, es gibt lediglich Entwicklungen zu komplexeren Lebensformen. Leben ist ein zeitlich begrenzter Abschnitt. Leben hat keinen Wert, außer zu leben.

Das Phänomen Leben begann vor rund 4 Milliarden Jahren, als bestimmte, vormals anorganische Moleküle die Fähigkeit zur Reproduktion hatten, also Organismen wurden. Die Rahmenbedingungen dieses Vorgangs kennen wir noch nicht zur Genüge, um eine Theorie zu entwickeln. Mit dieser Entwicklung begann auch der Prozess der Evolution, der Bildung einer Artenvielfalt in vielerlei Komplexitätsstufen. In der Evolution ist kein Plan erkennbar. Evolution ist eine Art Spiel mit Experimenten, trial and error. Die Rollen von Zufall und Notwendigkeit dabei hat Jaques Monod beschrieben. Evolution ist a tinkerer, not an engineer, ist die Erkenntnis von Francois Jacob. Monod und Jacob, beide Nobelpreisträger. Diese Erkenntnisse haben bis heute ihre Gültigkeit nicht eingebüßt.

Leben ist Kommunikation, ansonsten gäbe es keine Reproduktion. Leben ist Anpassung, um die Lebensdauer einer Spezies nachhaltig zu sichern. Mangelnde Anpassung führt zum Aussterben einer Spezies. Diesen Lernprozess nennt man Intelligenz. Bei Darwin hieß das noch survival of the fittest. Die Menge an Information für diesen Lernprozess ist aber unerheblich. Viren zum Beispiel leben mit einem Minimum an Informationsmenge und sind in der Lage, sich durch Mutation ständig neuen Bedingungen anzupassen.

Ob Natur Bewusstsein besitzt, können wir nicht beantworten, weil wir selbst nicht wissen, was Bewusstsein ist, das heißt, wie und wo in unserem neuronalen System Bewusstsein erzeugt wird. Natur kennt weder gut noch böse, also kein Recht, keine Moral, keine Ethik. Natur kennt weder schön noch hässlich. Natur kennt keine Wahrheiten. Naturrecht kann aus der Natur nicht abgeleitet werden, auch nicht eine Naturethik. Die kybernetischen Prozesse der Natur unterliegen keinen juridischen, ethischen und ästhetischen Kriterien. Die Natur kennt keine Unterscheidung der Spezies Mensch in Wilde, Barbaren und Zivilisierte. Auch unsere gesamte Kultur berührt die Natur in keiner Weise. Kultur im Sinne von Anpassung leisten auch andere Lebewesen. Vögel, die Nester bauen, Erdbewohner, die Höhlen graben, Biber, die Deiche bauen, Affen, die Werkzeuge benutzen beispielsweise. Da sind wir nicht allein.

Die philosophisch höchste Reverenz hat Baruch de Spinoza der Natur erwiesen, Deus sive natura. Der Kreator ist unter uns in allen Formen der Natur. Dieser Coup d’Etat ist ihm aber übel bekommen. Jean-Jaques Rousseau hat auch noch einen Ausflug in die Natur unternommen, um die Wilden zu rehabilitieren. Zurück ins Paradies, dann aber kam Du Contract Social, um die Zivilisierten zu disziplinieren. Das hat vor ihm schon Thomas Hobbes geschafft, Leviathan.

Dank der Neurobiologie wissen wir, wie unsere Kognition im neuronalen System funktioniert. Der gesamte Komplex und das System sind Natur. Diese Fähigkeiten sind ursächlich die Quelle der Schaffung von Kultur. Es wird uns aber immer verborgen bleiben, warum dieser evolutive Sprung vom Affen über zig Versuche zum „modernen Menschen“, homo sapiens genannt, führte.

Es wäre ja die Kardinalfrage, wie viel Natur in den menschlichen Kultur steckt. Ist der homo sapiens eine Form der Entfaltung und Verwirklichung von blinder Natur? Es müsste so sein. Ein Scheitern dieser Mission Menschheit als Kulturwesen beträfe das Wesen der Natur nicht. Failed Creature. Wie der Säbelzahntiger. Meine Frage war damals und noch heute, ob Kultur die Instanz ist, uns von der Bühne der Natur abtreten zu lassen. Das Unbehagen in der Kultur, also Kultur als Das Selbstmordprogramm. So hieß das Buch von Gordon Rattray Taylor, das 1968 erschien.

II.

Viren sind bemerkenswerte Entitäten. Für die von ihnen befallenen Lebensformen sind es tückische Minimonster, die ihnen mitunter Schaden zufügen können. Viren sind tote, inaktive Materiepartikel en miniature, eine Hülle mit genetischem Code, indes nicht zum Stoffwechsel und nicht zur Vermehrung fähig. Also anorganische Noch-Tote? Infektoide. Virologen nennen sie dem Leben nahe stehend. Um ein Lebewesen zu werden, müssen sie einen Wirt befallen. Haben sie ihr Erbgut erst einmal in die Wirtszellen eingeschleust, können sie sich endlich vermehren. Viren sind also auf die Lebensenergie anderer Lebewesen angewiesen. Das nennt man parasitär. Bei Abwehrreaktionen ihres Wirts passen sie sich schnell der Lage an und mutieren. Mit dieser Fähigkeit, sich ständig zu verändern, sind sie immer einen Schritt voraus. Bestes Beispiel ist das Grippevirus. Es gibt keinen absolut wirkenden Impfstoff, weil das Virus mit seiner wirksamsten Waffe, der Resistenz, sich genetisch ständig neu kombiniert, Artengrenzen sogar überspringt, sodass auch hoch riskante Mischungen aus tierischen und menschlichen Grippeviren die Folge sind. Zoologisch sind Menschen nun mal Tiere. Die Geschichte von Viren, also Zoonosen, und Menschen hat bislang ein offenes Ende.

Gegen den Ausbruch neuer Virentypen sind wir machtlos. Die einfach strukturierte Intelligenz von Viren, durch Befall eines Wirtes ihr Leben zu ermöglichen und nachhaltig zu sichern, ist uns einfach überlegen. Viren haben nur ein Ziel: Leben. Nicht als Individuum, sondern als Masse, aber als unorganisierte, nicht strukturierte Masse. Viren kommunizieren nicht miteinander, sie breiten sich aus, mutieren bei Abwehr, um weiter zu leben. Wie kann man bei Viren die Sinnfrage stellen? Gar nicht. Höchstens nach Zweck und Nutzen fragen. Es gibt genügend Viren, die den Lebewesen nützlich sind. Das wissen die Viren aber nicht. Viren haben keinen Sinn. Leben hat auch keinen Sinn außer Leben. Leben ist Stoffwechsel und Vermehrung. Bei Tieren kommt noch Mobilität hinzu.

Jetzt ruft der Mensch den Krieg gegen das Virus aus. Typisch Mensch, Feinden zu begegnen. Aber das Virus ist kein Feind. Es ist eine der vielfältigen Formen des Lebens in unserer Biosphäre, die man auch Natur nennt. In dieser Biosphäre sind alle Lebensformen per se gleichberechtigt. Sonst gäbe es sie nicht, wären sie nie entstanden oder ausgestorben. Der Mensch allein setzt den Anspruch seiner Berechtigung auf diesem Planeten. Das kann er gerne so sehen. Nur machen ihm jetzt wieder Viren einen Strich durch die Rechnung. Die Spanische Grippe 1918 forderte 50 Millionen Tote. Anfang der 80-er kam Aids, immer wieder bricht Ebola in Afrika aus, kommt aus dem Dschungel bis in die Millionenstädte. Wir hatten Sars, Schweinepest und immer wieder Influenza. Irgendwann ist auch Sars-CoV-2 still, kommt zum Erliegen, weil sich der Wirt Mensch immunisiert hat. Erholungspause für eine Zeit? Hoffen wir. Mag das Virus wieder im „Tiefschlaf“ sein, kommt es vielleicht zurück? Wir kennen den Mechanismus der Reaktivierung von Viren nicht. Wir wissen zu wenig auch darüber, ob und wann ein neuartiges Virus sich anschickt, die Welt „zu erobern“. Die Welt ist auch ihre Welt, auch wenn sie das nicht wissen. Viren haben kein Gedächtnis, nur die simple Intelligenz, ihr Leben zu sichern und fortzusetzen. Viren ist unser Wunsch nach Leben völlig egal. Und dieser Wunsch ist angesichts der Evolution gegenstandslos.

Begehren? Der Drang der Viren, aus ihrem Koma zu treten, indem sie über einen anderen Organismus fähig zur Reproduktion sind, und Resistenz, durch genetische Metamorphosen weiter zu leben. Als ein Kollektiv ohne Bewusstsein? Ich parasitiere, also bin ich? Viren sind Lebewesen, die aber wie anorganische Entitäten sich ausbilden. Wie Kristalle oder Rost. Eine Philosophie der Viren muss man nicht schreiben. Sie sind ontologische Leerformeln, wie auch Schwarze Löcher. Keine Gleichnisse, keine Mythen. Weil sie existieren, bloß da sind. Ohne Plan und ohne Anspruch. Das Virus „will“ nicht Dein oder mein Leben. Das Virus weiß nicht, dass es für uns tödlich sein kann. Es existiert.

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